Ich bin Jüdin
Auf der Suche nach ihrer eigenen Identität hat die österreichische Autorin Erica Fischer mit drei Jüdinnen aus Österreich und der Bundesrepublik gesprochen.

In Israel wäre ich Jüdin. Meine Mutter ist Jüdin. Jüdin - das Wort klingt fremd und bedrohlich, fast obszön, ein Schimpfwort, ein Tabu. Scham klingt durch, die Scham, zu den Opfern zu gehören, aber auch die Scham, den anderen - den "normalen" Deutschen und Österreichern - die Peinlichkeit des Tabubruchs antun zu müssen. "Ich bin Jüdin" - ich weiß nicht, ob ich das jemals so grad heraus gesagt habe. "Halbjüdin" schon eher, das entschuldigt meine Ignoranz.  Denn Jüdin heißt für mich KZ, sonst nichts. Ich habe keine Ahnung von der Religion, keine Ahnung von jüdischen Traditionen, es hat mich nie besonders interessiert. 

Ich bin österreichische Staatsbürgerin. Ich habe den Großteil meines 45-jährigen Lebens in Österreich verbracht. Doch abgesehen von einer gewissen sentimentalen Anhänglichkeit an Wien, habe ich mich dort immer als Fremde gefühlt. Selten hatte ich Gelegenheit, Menschen zu treffen, mit denen es Berührungspunkte in unserer persönlichen Geschichte gab. Die Frauenbewegung brachte den Durchbruch, endlich hatte ich eine Heimat gefunden. Als Frau konnte ich mein Anderssein mit den österreichischen Frauen teilen.

Doch die Fremdheit blieb bestehen. Irgendetwas war anders an mir.  Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal nach Israel fuhr, klammerte ich mich in meiner plötzlichen Orientierungslosigkeit an der Politik fest, machte Interviews für eine Reportage, die ich nie zu Ende brachte. Doch durch meinen Kopf raste die Aufregung: "Hier sind lauter Juden. Du brauchst dich nicht zu fürchten." Und zu Pessach in der Großfamilie meines Gastgebers wurde mir schlagartig bewusst, was ich nie vermutet hätte: Ich bin in einer jüdischen Familie aufgewachsen. Meine Mutter, die leidenschaftliche Antizionistin und Assimilationsfanatikerin, hat das Familienleben bestimmt. Mein Vater war eine blasse Randerscheinung. In Israel fand ich das häusliche Chaos wieder, das meine Familie von den anderen Familien unterschied, das Geschrei, die Verbalität, die unverbesserliche Unvernunft und bedrohliche Dominanz meiner jüdischen Mutter.

Die äußeren Umstände haben das Verdrängen immer schwerer gemacht. Seit der Konflikt um Waldheim das Tabu durchbrochen und die Schleusen geöffnet hat, ist Österreich für Juden noch ungemütlicher geworden. In den Kaffeehäusern Wiens reden die jüngeren Juden wieder vom Auswandern. Aber wohin? Israel ist nur mehr für wenige attraktiv. "Das ist eine Endlosdiskussion, die immer losgeht, wenn sich die Situation aufheizt. Das ist ein Ventil. Aber es passiert ja doch nicht", umreißt die 36-jährige Filmemacherin Ruth Beckermann im Café Prückl die Lage. Wien zu verlassen ist nicht leicht. "Wien ist so voll von dieser jüdischen Kultur", sagt die Tochter eines 1948 in die "Kaiserstadt" gekommenen rumänischen Textilhändlers. Das Prückl auf dem nach dem Antisemiten Dr. Karl Lueger benannten Platz am Ring bestätigt ihre Worte mit einem Hauch von Verfall.

Alle Filme, die Ruth gedreht hat, sind Auseinandersetzungen mit Wien. Die Stadt selbst kommt nie vor. Mehrmals hat sie mit Unterstützung ihrer Mutter versucht, Wien zu verlassen. "Meine Mutter hat immer gesagt, heirate nur ja keinen Österreicher. Es muss kein Jude sein, einen Holländer, einen Engländer, aber keinen Österreicher." Ruth hat nicht geheiratet. Ein Jahr lang hat sie über das Weggehen nachgedacht, jetzt zieht sie zu ihrem Freund nach Genf.

Auch ich habe mein ganzes Leben vom Weggehen geträumt. Warum, habe ich selbst nie genau gewusst. Es war bloß dieses unbestimmte Sehnen nach einem anderen Ort. England, das Land, das meine Eltern 1938 aufnahm und in dem ich geboren wurde, war für mich stets eine mögliche Zuflucht. 1965, als eine  antisemitische  Welle die Wiener Universität erfasste, zog ich mich ein Jahr lang nach England zurück. Mein englischer Pass ist mir ein kostbarer Schatz.

"Sobald ich im Ausland bin, fühle ich mich wohler und freier", bestätigt die Lehrerin Susanne Pollak mein Unbehagen an der Heimat, die für uns nie eine war. Ich kenne Susanne seit 15 Jahren. Unsere Beziehung ist konfliktreich und wird manchmal durchbrochen von monatelangem Schweigen, aber es gibt eine Gemeinsamkeit, die Worte überflüssig macht. "Im Ausland ist das Fremdsein legitimiert", erklärt Susanne ihre jahrelange Wanderung durch Europa. "Hier bin ich fremd, aber es ist nicht fassbar."

Das ist der Grund, warum ich mich entschieden habe, in die Bundesrepublik auszuwandern. Jüdische Freundinnen halten mich für verrückt. "Es käme mir nie in den Sinn, in Deutschland leben zu wollen. Wenn, dann in einem Land, in dem man eine andere Sprache spricht", sagt Susanne und weigert sich kategorisch, mich in Köln zu besuchen. Doch die deutsche Sprache ist die Grundlage meiner Arbeit. Hier kann ich mich in meiner Sprache ausdrücken und dennoch fremd sein. Es ist ein kostbares Gefühl von Freiheit. Ich muss weder dazugehören noch mich abgrenzen.  Die ethnische Durchmischung Kölns macht mich zu einer Fremden unter vielen.  Die deutsche Heimatsuche interessiert mich nicht. Mein österreichischer Vater ist tot, meine polnische Mutter ist in ihrem Anderssein erstarrt. Meine Eltern haben mir weder das eine noch das andere mitgegeben. Ich bin ein Mischling ohne Verankerung. Sitzen zwischen den Stühlen kann auch eine lustvolle Lebensform sein.

Susanne bleibt mit ihrem Kind im verhassten Österreich zurück. Auch ihre Eltern binden sie an Wien, "aber sonst gibt es nichts, das mich an dieses Land bindet. Nichts, nichts, nichts. Ich verstehe nicht, warum mein Vater zurückgekehrt ist, und ich mache es ihm eigentlich auch zum Vorwurf. Was ist gut an diesem Land?  Alles, was über den Tellerrand schauen konnte, ist weggegangen. Und jetzt wird sichtbar, was ohnehin die ganze Zeit über da war. Es ist schrecklich."

Susannes Vater ging im Auftrag der Kommunistischen Partei im Mai 1945 zu Fuß von Frankreich über die Alpen nach Wien. Auch nach dem Holocaust ist er davon überzeugt, dass die Juden nur durch Assimilation eine Chance haben. Wenn es nach Susannes Eltern gegangen wäre, hätte Susanne für ihr "Anderssein" bis heute keine Erklärung. Erst als sie vierzehn Jahre alt war, sah sich der Vater durch einen „äußeren Anlass gezwungen, seiner Tochter zu eröffnen, warum sie in Lyon geboren wurde und nicht, wie alle ihre Schulfreundinnen, in einem Wiener Nobelbezirk. Susannes Eltern sind durch die nationalsozialistische Hölle gegangen und wollten ihre Kinder vor der Vergangenheit schützen. Doch die Angst übertrug sich trotzdem: "Meine Eltern brechen immer noch in Panik aus, wenn das Telefon läutet. Mein Vater drückt das in einem Zornausbruch aus, meine Mutter zuckt zusammen und beginnt zu seufzen. Das ist die Angst, geholt zu werden." Als Susanne in einer Gestalttherapie in die Rolle ihrer Mutter schlüpfte, bekam sie keine Luft und musste sich ducken. Susannes Mutter wirkt immer atemlos. Sie beginnt einen Satz, unterbricht ihn dann und hört zu atmen auf. Susannes Schwester hat schweres Asthma.

Vater Pollak wollte aus den Kindern gute Österreicher machen. Der Versuch misslang. Sie waren anders und wussten nicht warum. Ständig erhielten die Kinder Doppelbotschaften. Die Eltern hatten nur jüdische Freunde, aber das Wort "Jude" war tabu. Susanne versuchte sich zu integrieren so gut sie konnte, aber es klappte nicht. Das unleugbare Anderssein wurde in der Familie in ein Bessersein umgedeutet, um es erträglicher zu machen: "Wir waren anders und wir waren besser, aber gleichzeitig sind wir zusammengezuckt, wenn das Telefon geläutet hat, und es war uns klar, dass wir gefährdet sind, dass wir ausgelöscht werden können."

Auch zu den "anderen", den Emigrantenkindern und deren Familien, die sich nach dem Krieg eng zusammenschlossen, hatte Susanne keinen Zugang. "Ich habe nirgends dazugehört."

Das Gefühl, nirgends dazuzugehören, ist wohl das hervorstechendste Merkmal der Kinder assimilierter Juden. "Zwischen allen Stühlen" soll denn auch die Schallplatte heißen, die Barbara von Sell aus Köln zusammen mit der Sängerin Monika Kampmann herausgeben wird. 1934 geboren, hat Barbara von der Nazizeit wesentlich mehr mitbekommen als Susanne, Ruth und ich. Doch unsere Familiengeschichten haben eines gemeinsam: Sie sind so kompliziert und verworren, dass sie sich schwer nacherzählen lassen. Barbara von Sells Geschichte ist die komplizierteste: Die ein Jahr nach ihrer Geburt tödlich verunglückte Mutter war halb Holländerin, halb Indonesierin, der 1943 im Zuchthaus Brandenburg von den Nazis ermordete Vater ungarischer Jude. Barbara wuchs in der Reichshauptstadt Berlin als Vollwaise unter unsäglich schwierigen Bedingungen auf und hat in ihrem Leben so viele Berufe gelernt oder ausgeübt, dass eine ordnungsgemäße Etikettierung unmöglich ist: Akrobatin, Schauspielerin, Journalistin, Organisatorin, Moderatorin, Übersetzerin, Lektorin, Texterin.

Deutsche „Halbjüdin“ zu sein bedeutete für Barbara schon immer Zerrissenheit. Ihre holländischen Verwandten lehnten sie ab, weil sie deutsch sprach. Ihre israelischen Verwandten lehnten sie ab, weil sie einen deutschen Mann geheiratet hatte und sich in der deutschen Innenpolitik engagierte. Ihre Suche nach Identität führte sie von der Zwangseinweisung in den katholischen Glauben als Kind im protestantischen Berlin zum freigewählten Protestantismus als Ehefrau und Mutter im katholischen Köln bis zum politisch motivierten Austritt aus der Kirche und dem Eintritt in die SPD. In Israel fand sie es unerträglich, als Siegerin durch das Tor von Jerusalem zu gehen, in der SPD verfolgt sie mit Sorge die Euphorie gegenüber den Palästinensern und die eilfertige Bereitschaft, Israel als faschistischen Staat abzuschreiben.

Geblieben ist die ungestillte und unstillbare Sehnsucht, dazuzugehören. "Das ist der Schwachpunkt meines ganzen Lebens", gesteht Barbara, "und in diesem Punkt bin ich auch unmäßig erpressbar geblieben". Als Barbara 1968 das erste Mal nach Israel fuhr, hoffte sie, das Gefühl der Heimkehr zu erleben, das sie in ihrem Leben nie gekannt hat, "aber ich kam in eine totale Fremde". Ihr einziges Zuhause sind die Familie, die Freunde und eine Vertrautheit mit den Straßen, die sie sich immer sehr rasch einzuprägen versucht, "weil ich so eine Verirrungsangst habe". Barbara möchte überall schnell Wurzeln schlagen, was sie aber nicht daran gehindert hat, in ihrem Leben 17 Mal umzuziehen. Ein Widerspruch, der auch Susannes und mein Leben bestimmt: sich anklammern und weglaufen zugleich. 

Barbara hat diese Unsicherheit an ihre Tochter weitergeben. Obwohl sie in Deutschland geboren und in absolut geordneten Verhältnissen aufgewachsen ist, ist auch Barbaras Tochter eine Zerrissene. "Diesen Traum, heilen zu können in einer kürzeren Zeit", hat Barbara aufgeben müssen.

Nach dem, was geschehen ist, ist diese Verquickung von Angst und Schuld innerhalb einer Generation gewiss nicht heilbar. Die 54-jährige Barbara von Sell spricht von überdehnten "Duldungsmuskeln", die ihr gewachsen sind, damit sie das Unerträgliche ertragen konnte, und findet diese "extrem entsetzlich". Sie ist froh, dass die Jungen es sich heute leisten können, "wehleidig" zu sein. Die 46-jährige Susanne Pollak wird das Schuldgefühl nicht los, "nie an das heranzukommen, was meine Eltern getan und durchgemacht haben". Die 36-jährige Ruth Beckermann hat erst durch eine Arbeit über die Nachkriegszeit begriffen, wie prägend ihre Kindheit in Wien gewesen sein muss: "Ich bin aufgewachsen in der Illusion, dass es eine Stunde Null gegeben und sich die Welt geändert hat. Und dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, in was für einer Zeit wir hier großgeworden sind. Tagtäglich vehementer Antisemitismus. Natürlich haben die Menschen nach sieben Jahren Indoktrinierung die Juden weiterhin gehasst. Ich würde sogar sagen, dass es Pogrome gegen die Juden gegeben hätte, wenn die Alliierten nicht da gewesen wären und permanent eingegriffen hätten." Ruth glaubt, dass die Auseinandersetzung ihrer Eltern mit den Tätern konkreter und fassbarer war als ihr eigener Zugang es sein kann: "Das waren erwachsene Menschen, da ging's um eine Wohnung, da ging's um etwas Reales. Aber für uns ist das alles Phantasie. Deswegen glaube ich, dass wir auf ganz andere Dinge viel sensibler reagieren und unter anderen Dingen  leiden, die für unsere Eltern nicht so schlimm sind, weil sie ja viel Schlimmeres erlebt haben."  

Für Ruth ist die Frage nach ihrer jüdischen Identität kein Problem. Sie wurde als bewusste Jüdin erzogen. Ihre Familie hält die jüdischen Festtage ein und geht in die Synagoge. "Man kann nicht Jude sein, ohne die Religion zu akzeptieren", sagt Ruth und stößt bei mir auf Unverständnis. Seit der Besetzung des Libanon durch Israel und den wachsenden Schwierigkeiten von Juden, mit einzelnen Reaktionen der deutschen und österreichischen Linken auf Israel zurechtzukommen, befassen sich auch Juden mit kommunistischem Hintergrund mit den Traditionen des Judentums. Ruth sieht darin auch eine späte Auseinandersetzung mit den Eltern und deren Verdrängungsgeschichte.

"Was ist jüdisch?", fragt Susanne, die jede Religion ablehnt, und kann für sich nur die gemeinsame Geschichte der Verfolgung erkennen. Aber da ist auch etwas anderes, schwer Fassbares, das wir mit Freude und Bestürzung wahrnehmen, wenn wir Juden begegnen: "Es ist eine andere Wesensart. Dieses Lebhafte. Alles sofort sprachlich und mit Gesten ausdrücken. Ich finde mich wieder in anderen Juden. Aber gleichzeitig wage ich das gar nicht auszusprechen, denn da ist dieser Wachtposten in mir, der sagt: Haben das nicht auch die Nazis gesagt, dass die Juden erkennbar sind?"

Antisemitismus hat Ruth Beckermann am unverblümtesten erlebt. In der Volksschule wurde ihr gesagt, die Juden seien Gottesmörder. Ihre beste Freundin wurde von den Eltern angehalten, Ruth doch lieber zu sich einzuladen, "denn sie soll nicht so oft zu Juden gehen". Für Ruth war das kein Grund, einen Konflikt mit ihr zu beginnen oder gar den Kontakt abzubrechen: "Das ist ein Kompromiss, den man machen muss, wenn man hier leben will. So in dem Sinne: Er ist ein anständiger Mensch, aber da hat er noch dieses Bisschen Antisemitische. Ich habe lange gebraucht, um diese mangelnde Sensibilität der anderen ernst zu nehmen und zu problematisieren."

Barbara von Sell begegnet Antisemitismus oft als Judenfreundlichkeit verkleidet: "Bei meinen Eltern verkehrten Juden - das waren tolle Leute." Oder: "Das ist ein gutes Hotel, da sind auch sehr viele Juden. Naja, wo Juden hinkommen, da weiß man schon, dass es gut ist." Oder: "Das war ein fabelhafter, allerdings jüdischer Anwalt... na, die sind ja die besten." Oder als Neidkomplex: "...na, die haben natürlich internationale Verbindungen."

Wie verhalten wir uns, wenn wir unvermittelt mit Antisemitismus konfrontiert werden? In Wien kommt das seit Waldheim immer häufiger vor. Susanne entzieht sich: "Ich kann keinen Widerstand leisten. Ich mache alles zu. Ich gehe weg. Ich stelle mich keiner Diskussion." Barbara beobachtet auch in der Bundesrepublik eine schleichende Enttabuisierung von Antisemitismus, "aber ich bin froh über jedes Wort, das auf den Tisch kommt. Es ist mir lieber, sie sagen es, als sie unterdrücken es, weil es unter Strafe steht. Das war ja eine Kunstdemokratie, das stimmte nicht." Genau dieser Mechanismus macht es ihr auch so schwer, sich zu wehren: "In dem Moment weiß ich, sie haben die Wahrheit gesprochen. Wenn ich sage, mein Vater war Jude und wurde umgebracht, dann erzeuge ich in der Gruppe ein Tabu, mache ihnen Angst. Am Ende muss ich mich furchtbar entschuldigen. Ich entscheide also von Fall zu Fall, wo ich etwas investieren möchte und wo nicht. Denn außer, dass ich hinterher jedes Mal heule und vor Wut tobe, kommt nichts bei raus. Die werden ihre Meinung nicht ändern und nur denken, komisch, wie sensibel die Barbara ist, wir haben doch gar nichts gegen sie gesagt..."

In dieser "Überempfindlichkeit" liegt letztlich der kleinste gemeinsame Nenner unserer Identität. "Überempfindlich" sind wir auch als Frauen. Außer Ruth sind wir alle Feministinnen, sensibel auch für die feine Klinge der Frauenverachtung, die quantitativ wesentlich häufiger vorkommt als Antisemitismus. Und doch ist für uns Antisemitismus existentiell bedrohlicher. Mit Sexismus können wir umgehen, da gibt es eine offene Auseinandersetzung zwischen Männern und Frauen. Wir können uns wehren. "Beim Antisemitismus ist es so unterschwellig, so raffiniert, so gemein, so unaufarbeitbar", sagt Barbara.

Ruth besteht darauf, dass die Diskriminierung von Juden heute untrennbar verbunden ist mit der physischen Vernichtungserfahrung. Den Vergleich zwischen Juden, Schwarzen und Frauen findet sie unerträglich: "Das hättest du vielleicht in den 30er Jahren  machen können, aber nicht heute nach Auschwitz." Ich selbst sehe mich bisweilen gezwungen, gerade diesen Vergleich zu bemühen, um das Ausmaß an Verachtung sichtbar zu machen, das Frauen völlig selbstverständlich zugemutet wird, bei Juden aber unter Strafe steht. Als ich diesen Vergleich einmal im österreichischen Fernsehen anstellte, hat mir das eine Beschwerde der Israelitischen Kultusgemeinde eingebracht.

Ist der Vergleich mit Frauen ehrenrührig? Kann es moralisch vertretbar sein, Diskriminierungen zu hierarchisieren? Ist die Verachtung von Frauen nur deshalb weniger bedrohlich, weil ihr in der jüngeren Geschichte keine Massenvernichtung vorausgegangen ist? "Ich habe die Hexenverbrennungen nicht so sehr in meinem Bauch wie den Tod meines Vaters", sagt auch Barbara und kramt erst allmählich die Unmengen von "dusseligen Bemerkungen" aus ihrem Gedächtnis, die tagtäglich auf Frauen niederprasseln. Ganz zu schweigen von den Bildern.

Auch mir schießen bei Antisemitismus sofort meine Warschauer Großeltern in den Kopf, die ich nie gekannt habe und die in Treblinka eines unvorstellbaren Gastodes gestorben sind. Und der Gedanke, dass auch ich auf diese Weise hätte sterben können, hätten meine Eltern es nicht rechtzeitig geschafft, Österreich zu verlassen. Trotzdem will ich nicht einsehen, dass der jüdische Teil von mir schützenswerter sein sollte als der weibliche. Ich kann die beiden nicht trennen. 

Erschienen in: "Die Zeit", Hamburg, 1989

Ich bin Jüdin © Erica Fischer 1989

 

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