Das Lernen der Tora beruht auf Freiwilligkeit
Die Jüdische Oberschule zu Berlin

Das Lernen der Tora beruht auf Freiwilligkeit Die Jüdische Oberschule zu Berlin Moishe Waks bahnt sich den Weg durch ein dichtes Gewusel von Schülerinnen und Schülern aller Altersgruppen. Der Lärm, der durch die Gänge des blitzblank renovierten alten Schulgebäudes in der Großen Hamburger Straße 27 hallt, ist ohrenbetäubend. Trotzdem gelingt es Moishe Waks, ein paar hebräische Sätze aufzuschnappen. Allerhand, denkt er sich, wie gut die Schüler in dieser Schule Hebräisch lernen. Doch bald merkt er seinen Irrtum. Es sind Schüler und Schülerinnen aus einer israelischen Schule, denen die hebräischen Wörter so perfekt aus dem Mund sprudeln. Sie sind als Austauschschüler für 14 Tage zu Besuch in Berlin und nehmen am Unterricht der Jüdischen Oberschule teil.

Moishe Waks ist Schuldezernent der Jüdischen Gemeinde. Es ist der 4. Mai, und er eröffnet zusammen mit dem Schuldirektor das von den Schülerinnen und Schülern organisierte Fest anläßlich des 50. Jahrestags des Staates Israel. Die große Aula ist mit der israelischen Fahne, weiß-blauen Girlanden und weiß-blauen Luftballons geschmückt. Die Veranstaltung hätte eigentlich im Schulhof stattfinden sollen, aber es ist grimmig kalt an diesem Montagabend im Mai. Auf dem Programm stehen zwei Schulbands, eine Tanzgruppe aus Jerusalem sowie eine Sängerin und ein Sänger äthiopischer Herkunft. Dazu jede Menge Kuchen, die eifrige Mütter für den Anlaß gebacken haben. Als der schwarze Junge mit den Rastalocken "Adondo lam" singt, summen alle mit. Dann singt eine Berliner Schülerin a capella "Schir Laschalom", da stehen alle auf und klatschen im Takt. Ob in Break-dance-Ausstattung mit dem Hosenboden an den Knien oder im kleinen Schwarzen mit hochgestecktem Lockenhaar - die Schülerinnen und Schüler der Jüdischen Oberschule kennen sich offensichtlich gut aus bei den musikalischen Hits aus Israel.

Kann man die private Ganztagsschule als zionistische Schule bezeichnen? Diese Frage, in Deutschland selten gestellt, bringt die Konrektorin Raissa Kruk einen Augenblick lang aus der Fassung. "Die Richtung der Schule gibt nicht die Schule vor, sondern der Träger", antwortet sie diplomatisch. Der Träger ist die Jüdische Gemeinde zu Berlin. Religionslehre, Judaistik und Hebräisch sind Pflichtfächer. Alle jüdischen Feiertage werden begangen, das Mittagessen ist koscher, im Musikunterricht lernt man israelische Lieder. Im Januar ist zum ersten Mal im Rahmen des Schüleraustauschprogramms eine Klasse nach Israel gefahren.

"Früher wurde das Judentum von der Religion her bestimmt", erklärt die Konrektorin, "aber heute sehen wir das anders. Es gibt den Staat Israel, und wir orientieren uns an ihm." Raissa Kruk ist Vorsitzende des Schulausschusses in der Gemeinde und der Schule mit Hingabe verbunden. Sie kam vor zwanzig Jahren aus Moldawien nach Deutschland und unterrichtete 14 Jahre lang Mathematik und Physik an einer öffentlichen Schule. Nun ist sie für die Dauer der Aufbauphase der Jüdischen Oberschule "beurlaubt für öffentliche Belange". Sie sieht in der Schule eine Hoffnung für die Jüdische Gemeinde. Den Zuwanderern aus Rußland wurde in ihrer Heimat wenig über das Judentum vermittelt, heute jedoch stellen sie bereits einen selbstbewußten Teil der Gemeinde dar. Die Absolventinnen und Absolventen der Jüdischen Oberschule werden, ob sie Juden sind oder nicht, Informationen über das Judentum in die deutsche Bevölkerung tragen.

Die Aufgabe des - nicht-jüdischen - Direktors Dr. Uwe Mull ist es, wie er in einem Artikel in trockenem Amtsdeutsch festhält, die 1993 wiedereröffnete Schule "auf einem mit staatlichen Schulen vergleichbaren Niveau funktionsfähig zu machen". Die 1862 eröffnete Institution stand vom Anfang an in der von Moses Mendelssohn geprägten Tradition von Toleranz und gegenseitigem Verständnis. Vom Anfang an nahm sie auch nicht-jüdische Kinder auf. Im Jahre 1912 war die Schule so gut besucht, daß der angrenzende jüdische Friedhof als Pausenfläche benutzt werden mußte. Als eine der letzten jüdischen Schulen wurde sie 1942 von den Nationalsozialisten geschlossen und diente bis Kriegsende als Deportationsstelle für Berliner Juden. In der DDR wurde in der Großen Hamburger Straße eine Berufsschule eingerichtet, ohne daß die Geschichte des Gebäudes jemals Thema war. Das heutige immer noch im Aufbau begriffene Pilotprojekt für 250 Schülerinnen und Schüler wird etwa zur Hälfte von nicht-jüdischen Kindern besucht. Ebenfalls die Hälfte der Schüler hat, wie Raissa Kruk es formuliert, "einen Bezug zur russischen Sprache".

Gerade diese Gruppe von Schülern macht der Konrektorin Sorgen, denn ab August gilt die neue Schulgeldordnung der Jüdischen Gemeinde. Es wird eine monatliche Pauschale von 400 Mark pro Kind verlangt, mit sozial gestaffelten Ermäßigungen für Kinder, deren Eltern Mitglieder der Jüdischen Gemeinde sind. Gemeindemitglieder können aber nur halachische Juden sein. Viele der aus den GUS-Staaten nach Deutschland eingewanderten Juden entsprechen diesen strengen Anforderungen nicht und verlieren so die Chance auf Schulgeldermäßigung, die gerade Zuwanderer dringend benötigen.

Der Entscheidung für die finanzielle Ungleichbehandlung von Juden und Nichtjuden ging in der Jüdischen Gemeinde eine intensive Diskussion voran. Die neue Ordnung sei nicht nur ungerecht, meinte ein Mitglied des Schulausschusses, sondern beschere der Schule auch einen "schlechten Ruf". Doch das Argument eines jährlichen Defizits der Jüdischen Gemeinde von drei bis vier Millionen Mark erwies sich als durchsetzungsfähiger. Die Schule sollte jüdischen Kindern eine jüdische Erziehung bieten. Den nicht-jüdischen Eltern müsse "leider gesagt werden", daß das Privileg, ihre Kinder an diese Schule zu schicken, "eine teure Privatangelenheit" sei.

Die Eltern, die sich diese teure Privatangelegenheit weiterhin leisten wollen, sind vielfach kulturell interessierte Menschen aus dem alten Ostberlin, die in der Jüdischen Oberschule eine Chance sehen, ihre Kinder im Geiste der Toleranz zu erziehen. Direktor Mull faßt die Gründe zusammen: "Die jüdischen Schulen waren immer die besten in Berlin", "Wegen der Vergangenheit", "Wir sind in der DDR ohne Religion aufgewachsen, wir wollen, daß unsere Kinder etwas davon wissen", "Die jüdische Religion ist die älteste der Welt". Im vergangenen Jahr war der Andrang so groß, daß auf jeden Platz 2,5 Kinder kamen. Die Aufnahmekommission hatte es schwer.

Das Ehepaar Dittrich, sie Ärztin, er Verkehrsplaner und Elternsprecher der Klasse seiner Tochter, wohnt in der Spandauer Vorstadt, in unmittelbarer Nähe der Schule und der Neuen Synagoge, wo vor dem Krieg mehrheitlich arme Juden lebten. Als aktive Mitglieder der protestantischen Sophiengemeinde haben Wolfgang und Rosemarie Dittrich zu DDR-Zeiten im Rahmen der Arbeitsgruppe Judentum-Christentum viele Vertreter in- und ausländischer jüdischer Gemeinden kennengelernt und sich im Laufe der Jahre intensiv mit dem Judentum beschäftigt. Ihre Tochter Dagmar, die zu schüchtern ist, um sich mir überhaupt zu zeigen, interessiert sich sehr für die jüdische Religion und die hebräische Sprache. Dennoch hat sie sich voriges Jahr für die Konfirmation und also fürs Christentum entschieden. Für die Eltern ist es kein Problem, daß ihre christliche Tochter jüdischen Religionsunterricht besucht. Die hebräische Bibel sei die gemeinsame Wurzel von Judentum und Christentum, sagen sie. Immerhin war Jesus Jude, und das Neue Testament sei nur eine Ergänzung des Alten. Bevor sie Dagmar in die Schule einschreiben ließen, haben sie sich dennoch gefragt, wie ihre Tochter das Erlernen zweier Religionen verkraften würde. Als es dann so weit war, erkannten sie, daß die Kinder im jüdischen Religionsunterricht weit weniger religiös und weltanschaulich bedrängt werden als in christlichen Konfessionsschulen. So gibt es zum Beispiel kaum ein gemeinsames Gebet. "Das könnte ruhig mehr sein", sagt Wolfgang Dittrich.

Dieser Meinung ist auch der 16jährige Schüler Richard Lazar. Mit ernstem Blick bekrittelt er die mangelnde Konsequenz der Schule bei der Vermittlung des Judentums. Nach dem Essen werde nur die Bracha gesagt und nicht, wie es sein sollte, das Birkat Hamazon. "Wenn man es nicht ordentlich macht, kann man es gleich ganz weglassen", sagt er streng, und seine Stimme nimmt einen leicht verächtlichen Unterton an, als er merkt, daß ich keine Ahnung habe, wovon er spricht. Ebenso säkularisiert wie ich selbst sind auch die jüdischen Schüler. Richard zitiert die Meinung eines Orthodoxen: "Das einzige, was an der Schule jüdisch ist, ist der Name, das koschere Essen und ein paar jüdische Lehrer." Aber auch für Richard ist es kein Problem, daß die Hälfte seiner Mitschüler keine Juden sind: "Was ist für ein Unterschied zwischen einem jüdischen und einem christlichen Tischgebet?" Könnte er in einer Moschee beten, um seine Solidarität mit den Arabern zu zeigen, würde er auch das gerne tun, "vorausgesetzt ich bin mit dem Inhalt einverstanden".

Als Sohn eines Vaters im diplomatischen Dienst ist Richard Lazar von klein auf daran gewöhnt, immer wieder entwurzelt zu werden. In Bratislava geboren, kam er mit fünf Jahren nach Berlin, war dann wieder eine Zeitlang in Prag und bereitet sich nun darauf vor, mit seinen Eltern nach Tschechien zurückzukehren. Aber auch in Berlin selbst hat er die Schule in drei Jahren siebenmal gewechselt. Mehr als jeder andere kann er also vergleichen. Sein Urteil fällt gnädig aus. Zwar sei das Lernniveau durchschnittlich und manchmal ginge es chaotisch zu, aber der multikulturelle Anstrich gefällt ihm. Am meisten schätzt er die Liberalität der Schule: "Außenseiter wie ich werden hier besser behandelt als anderswo." Er sei immer Klassenbester gewesen, und in der Jüdischen Oberschule habe man ihm unbürokratisch ermöglicht, eine Klasse zu überspringen. Mit den 17jährigen fühlt er sich wohler.

In Richards Klasse sind 23 Schüler. Eine Traumzahl, verglichen mit anderen Berliner Schulen. Etwa die Hälfte der Schüler sind Russen. Sie sprechen oft untereinander russisch, was die deutschsprachigen Schüler ausschließt und die Lehrer ärgert. Im Unterricht sind sie weniger motiviert. Richard erklärt diese gewisse Passivität mit dem in der sozialistischen Zeit eingelernten Verhalten, so wenig wie möglich zu arbeiten. Während es zwischen Juden und Nichtjuden in der Klasse überhaupt keine Konflikte gebe, kämen Freundschaften zwischen Deutschsprachigen und Russen selten vor. Gibt es zu wenige Integrationsmaßnahmen? "Wie kann man sie besser integrieren als sie mit den anderen in eine Klasse zu stecken?" fragt Richard Lazar zurück.

Wenn es zu Konfrontationen kommt, organisiert die engagierte Vertreterin der russischen Schülerinnen und Schüler Raissa Kruk einen Projekttag. "Miteinander leben, einander verstehen", "Irgendwie anders", "Wie läuft die Integration in Israel?" lauten die Themen, mit denen sich die Kinder in Texten und Bildern auseinandersetzen. Doch wenn das Probehalbjahr eines Zuwandererkindes verlängert wird, kann es schon vorkommen, daß sich manche Eltern aufregen.

Die Schule sei stark bestimmt von den Gemeindeangehörigen, sagt Wolfgang Dittrich, weshalb für viele russische Schüler die Schule eine Selbstverständlichkeit sei und nicht ein Privileg, das man sich erwerben und bewahren muß. Manche Schüler würden an der Schule gehalten, die an anderen Gymnasien keine Chance hätten. Manche, die noch nicht gut genug Deutsch sprechen, würden mehr Förderung brauchen. Doch der kleinen Jüdischen Gemeinde zu Berlin mangelt es chronisch an Geld. Von ihren 10 500 Mitgliedern sind mehr als die Hälfte Zuwanderer, deren Gemeindesteueraufkommen gering ist. Bei den Finanzen sitzt die Jüdische Oberschule zwischen allen Stühlen: Jüdischen Stiftungen ist die Schule mit ihren 50% nicht-jüdischen Kindern nicht jüdisch genug. Der Berliner Senat wiederum fördert zwar Israel-Reisen für deutsche Schüler, der Israel-Bedarf jüdischer Schüler hingegen erscheint ihm weniger förderungswürdig. Außerdem fördert der deutsche Staat die Schule mit ihren kleinen Klassen nicht anders als große Berliner Gymnasien mit wesentlich mehr Schülern pro Klasse. Die höheren Kosten des koscheren Essens werden nicht berücksichtigt.

Das Lehrerkollegium ist international. Neben nicht-jüdischen deutschen Lehrern unterrichten amerikanische, französische und israelische Lehrerinnen und Lehrer. Manche haben sehr unkonventionelle Unterrichtsmethoden. Ich nehme am Religionsunterricht von Andy Steinmann aus den USA teil. Es ist die letzte Unterrichtsstunde. Es ist sehr heiß. Schülerinnen, deren Klasse unter dem Dach liegt, haben schon bei Konrektorin Kruk angefragt, ob sie hitzefrei bekommen können. Inmitten von Getöse versucht Steinmann, zappeligen 15jährigen Schawuot zu erklären. Er erzählt über den Aufstand von Bar Kochwa und Rabbi Akiwa gegen die Römer im Jahre 135 n.d.Z. Den Einwand eines Mädchens "Was, das waren nur zwei Leute!" überhört er. Ein Schüler namens Martin möchte unbedingt die Klasse verlassen und stört. "Halt die Klappe, kleiner Fettwanst!" ruft ihm ein Mädchen quer über das Klassenzimmer zu. Ein anderer hat seine Kopfhörer um. Steinmann versucht, ihm den Walkman zu entreißen. Dazwischen hagelt es Fragen und Informationen: Was ist Pessach? Waren die Juden nach dem Auszug aus Ägypten freie Menschen? Nein. Was fehlte? Wieso wurden sie erst sieben Wochen später frei? Ja, sie haben die Tora bekommen. Wurden sie gezwungen, die Tora zu lernen? Nein, das Lernen der Tora beruht auf Freiwilligkeit. Zwei Schüler, die dauernd dazwischenreden, werden der Klasse verwiesen. "Machen wir jetzt Unterricht oder spielen wir Sesselrücken", fragt einer. Ein anderer kniet sich vor ihm nieder: "Bitte lassen Sie uns nach Hause gehen." "Juri, ich trage dich gleich ins Klassenbuch ein", droht Steinmann. "Na und", antwortet dieser, "ich stehe sowieso immer drin." Steinmann droht, selbst zu gehen, das Unterrichten freue ihn unter solchen Bedingungen nicht mehr. "Den Gefallen machen wir Ihnen nicht, daß es Ihnen auch noch Spaß macht", schallt es zurück, "wir machen Ihnen das Leben zur Hölle." - "Sie sind ja richtig hart geworden", bemerkt ein anderer. "Weil ich in Israel war", antwortet Steinmann. Und erzählt über Schawuot in Israel. Was gehört zu einem gelungenen Lagerfeuer? Alkohol! Holz! Sex! Ecstasy! antworten die Frechdachse. "Herr Steinmann muß dabei sein", schmeichelt ein Mädchen. Ich bin mit den Nerven am Ende. "Geht es in jeder Stunde so zu?" frage ich das Mädchen neben mir. "Nein", antwortet sie, "nur bei denen, die wir mögen. Der Steinmann ist jeden Tag eine neue Herausforderung."

Eine jüdische Schule mit 50 Prozent Nichtjuden und 50 Prozent Russen mitten in Berlin - das ist in der Tat jeden Tag eine neue Herausforderung. Und übrigens: In Deutschland reden derzeit alle von der wachsenden Gewalt an den Schulen. In der Großen Hamburger Straße 27 gibt es kein Gewaltproblem. Schon das allein spricht für das Chaos.

Erschienen in: "Deutschland", Frankfurt/M., 1998

Das Lernen der Tora beruht auf Freiwilligkeit © 1998 Erica Fischer

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