Katarzyna Weintraub hat eine bewegte Lebensgeschichte. Nach beinahe vier Jahrzehnten, die sie in verschiedene europäische Länder geführt haben, ist sie in ihre Geburtsstadt Warschau zurückgekehrt. Siebzig Jahre nach Kriegsbeginn sucht Polen nach einer Identität, die an die Vorkriegszeit anknüpft. Erica Fischer sprach mit Katarzyna Weintraub über ihre Heimat, Juden und Deutsche.
Es ist, als wäre sie nie weg gewesen. Seit bald einem Jahr ist Katarzyna Weintraub, von ihren Freunden Kasia genannt (Kascha ausgesprochen), in einer liebevoll eingerichteten Wohnung im Warschauer Stadtteil Mokotów zu Hause. Um wieder dort zu leben, wo sie einst aufwuchs, ist sie bereit, eine gesalzene Miete in Kauf zu nehmen. Mokotów ist einer der wenigen Stadtteile, der von deutschen Bomben verschont wurde, eine Oase inmitten der Boomstadt Warschau, deren Kriegswunden nie heilen werden.
Kasia Weintraub lebt nach der Trennung von ihrem Mann zum ersten Mal in ihrem Leben allein. Einsam ist sie nicht. Immer schon ist sie von Menschen umgeben gewesen. Auf ihrer Wanderung durch Europa hat sie ihre polnischen Freunde nie aus den Augen verloren. Die Einladungen in ihre Altbauwohnung am Prenzlauer Berg gehören zu den Erfahrungen, die die Gäste nicht so bald vergessen werden. Der sich von Köstlichkeiten biegende Tisch, die angeregte Unterhaltung sowie ausreichend Wein und Wodka versetzten die bezauberten Besucher nach Polen, wo Gastfreundschaft etwas Heiliges ist.
Nun ist sie also heimgekehrt in das Land, das sie 1971 verlassen und doch nie aus ihrem Herzen verstoßen hat. Vor zwei Jahren ist sie sechzig geworden: „Irgendwann ist es Zeit, nach Hause zu gehen.“ Nach Hause? Nicht alle Menschen ihrer Generation würden das so sehen. Schließlich gab es 1968 in Polen eine üble antisemitische Hetze, die den 20.000 Menschen jüdischer Herkunft die Lust, hier zu bleiben, vergällte. Die meisten Auswanderer waren jung und gebildet, ein gewaltiger brain drain, den sich die polnische Führung da zufügte.
1968 war Kasia 21 Jahre alt und studierte im sechsten Semester Philosophie. Ihr Vater, ein Spanienkämpfer, war schon pensioniert, die jüdische Mutter verlor ihren Posten als Staatsangestellte. Beide sind Holocaustüberlebende, der Vater war in Auschwitz und Sachsenhausen. Die Mutter wurde im KZ Ravensbrück medizinischen Versuchen unterzogen und litt lebenslang an den Folgen.
Vater und Mutter lernten sich nach dem Krieg kennen und waren fest entschlossen, den Blick zurück zu meiden. Sie bekamen kurz hintereinander drei Kinder und beteiligten sich voller Zuversicht am Aufbau des Sozialismus. Über ihre Erfahrungen in den Konzentrationslagern bewahrten sie Stillschweigen. Aus Angst, sie zu verletzen, stellten die Kinder keine Fragen. Heute ist es zu spät.
In Weintraubs Familie hielt man nichts von einer jüdischen Nationalität. Und von Religion noch weniger. Die Ereignisse vom März 1968 hat Kasia nicht primär als etwas Antijüdisches erlebt. Es herrschte Umbruchstimmung in Polen, Studenten und Intellektuelle drängten auf eine Demokratisierung des Systems. Als im Februar das Publikum bei den antirussischen Passagen im Drama „Totenfeier“ des großen polnischen Romantikers Adam Mickiewicz applaudierte, wurde das Stück sofort abgesetzt. Nach der letzten Vorstellung kam es zu einer Demonstration mit anschließenden Festnahmen. Ein Interview, das zwei Studenten der französischen Zeitung Le Monde gaben, kostete ihren Studienplatz. Gegen deren Verweis von der Universität gingen die Kommilitonen am 8. März auf die Straße.
Dass die beiden Studenten Juden waren, passte dem Regime ins Konzept. Schon im Vorjahr hatte man nach dem Sechstagekrieg unter dem Deckmantel des Antizionismus eine antisemitische Stimmung geschürt. Aber erst jetzt entpuppte sie sich als regelrechte Kampagne. Alles, was schlecht war im Land, wurde auf die Zionisten geschoben. Der Vorwurf traf alle Juden, gleichgültig, wie sie zu Israel standen. Spätestens jetzt erkannten die meisten, dass das System nicht demokratisierbar war, und viele Intellektuelle solidarisierten sich mit den Studenten.
„Wir waren geschockt und bedrückt“, erinnert sich Katarzyna Weintraub. Das Land verlassen wollte aber vor allem ihr Mann. Für ihn war die antijüdische Stimmung eine willkommene Gelegenheit, hinauszugehen in die Welt. Freunde, die keine Juden waren, beneideten sie um diese Chance. Das junge Paar beantragte Reisedokumente, die ihnen aus „wichtigen nationalen Gründen“ mehrmals verweigert wurden. Erst, als Parteichef Wladyslaw Gomułka gestürzt und durch Edward Gierek ersetzt wurde, durften auch die restlichen Auswanderungswilligen 1971 gehen.
Kasia und Michał Weintraubs Reisedokumente waren einen Monat lang gültig, mit ihrer Ausreise verloren sie die polnische Staatsbürgerschaft. „Wenn man mir erzählt, dass die deutschen Juden in der Nazizeit nur zehn Reichsmark in die Emigration mitnehmen durften, dann kenne ich diese Situation gut“, meint Weintraub. In Polen waren es zehn Dollar pro Kopf. Lange Listen von Gegenständen und die Abgabe der Wohnungsschlüssel – alles schon da gewesen. Es war ein Abschied für immer. Und um den Auswanderern den Neuanfang in der Fremde noch schwerer zu machen, mussten Wissenschaftler ihre Bücher und Schriftsteller oder Journalisten ihre Schreibmaschinen zurücklassen. „Wenn man alle Formalitäten erledigt hatte, war man froh, wegzukommen. Nichts wie weg aus diesem Lager!“
Es blieb dem jungen Paar wenig Zeit, ein Aufnahmeland zu finden. Sie entschieden sich für Schweden. Mithilfe eines Studienlohns begannen beide dort eine zweite Ausbildung an der Uni. Kasia studierte Sozialanthropologie, schrieb ihre Diplomarbeit auf Schwedisch, wurde schwedische Staatsangehörige und bekam ihr erstes Kind. Nach sechs Jahren setzten die Weintraubs ihre Wanderschaft fort, denn Michał hatte in Köln einen Job gefunden. Wie sage ich es meiner Mutter?, war Kasias Hauptproblem. Und in der Tat drohte diese, niemals nach Deutschland zu kommen. Woran sie sich aber schon bald nicht mehr hielt. Als Rentnerin war sie keinen Reisebeschränkungen unterworfen.
Umgekehrt sah es anders aus. Zwar wurde 1977 zwischen Polen und Schweden Visumfreiheit vereinbart, doch die Grenze erwies sich für die polnischen Juden mit schwedischem Pass als unüberwindbar. Als auch der Sekretär des schwedischen Premierministers, ein polnischer Jude, nicht einreisen durfte, kam es zu einem schweren Zerwürfnis zwischen beiden Staaten. „Für mich ist jeder Schwede gleich“, sagte der Premierminister, flog umgehend zurück und kündigte das Abkommen. Bis 1989 galt nun wieder Visumzwang. Die polnischen Juden jedoch blieben Paria. „Sie haben in Ihrem Leben eine Entscheidung getroffen und tragen jetzt die Konsequenzen.“ Mit dieser Begründung wurde Kasia Weintraub die Einreise verweigert, als sie zur Hochzeit ihres Bruders nach Warschau kommen wollte.
Nach der Wende war der Spuk vorbei, und die Weintraubs konnten nach Polen, so oft sie wollten, zumal sie sich nach mehreren Wohnorten in Deutschland, England und Belgien in Berlin niedergelassen hatten. Nachdem sowohl Radio Multikulti als auch die polnische Redaktion der Deutschen Welle, für die sie gearbeitet hatte, dicht machten, erkannte Katarzyna Weintraub, dass sie als Autorin und Übersetzerin deutschsprachiger Bücher in Polen bessere Berufschancen haben würde als in Deutschland. Zwar fühlte sie sich auch in Berlin zu Hause, doch was in Deutschland politisch passierte, ging ihr nicht wirklich unter die Haut.
Anders in Polen. Die polnischen Demokratisierungs- und Transformationsprozesse ziehen sie in ihren Bann. Alles ist in Veränderung begriffen. Weintraub ist überzeugt, dass das noch mehrere Generationen so weitergehen wird. „Die Menschen wollen Demokratie, aber sie tun sich noch schwer damit. Das ist faszinierend und manchmal auch ärgerlich.“
Ärgerliches fand Kasia aber auch in Deutschland. Als nach der Wende Ausländer und Flüchtlinge sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnten, kam die Jüngere ihrer beiden Töchter eines Tages von der Schule und fragte: „Mama, müssen wir fliehen?“ Obwohl in Deutschland geboren, identifizierte sie sich mit der Seite der Ausländer. „Wir haben den Kindern immer gesagt, dass wir Ausländer sind.“ Es wäre gar nicht anders möglich gewesen, denn „die deutschen Eliten sind ignorant. Sie haben sich von Polen ein Bild gemacht, das sie nicht korrigieren wollen.“
Weintraub selbst hat als schwedische Staatsbürgerin keine Diskriminierung erfahren. Aber sie hat die Arroganz erlebt, mit der Freunde am Ausländeramt behandelt wurden, wenn sie ihre polnischen Pässe zeigten. Der Grund für diese herablassende Haltung sei das mangelnde Interesse der Deutschen an den Polen, meint sie. In Europa würden alle westwärts schauen. Im Unterbewusstsein gäbe es immer noch die Unterscheidung nach Ländern, die als Kulturnation gelten, und denen, die nicht als solche gelten.
Und dann gibt es ja noch das Vorurteil vom grassierenden Antisemitismus in Polen. „Ich lache nur, wenn die Leute mit solch simplen Wahrheiten daherkommen.“ Weintraub gönnt den Deutschen die Entlastungsfunktion dieses Stereotyps nicht. „Jeder soll vor der eigenen Tür kehren. Die Polen waren keine Heiligen, aber die anderen auch nicht.“
Katarzyna Weintraub arbeitet daran, diesen negativen Vorurteilen mit positiven Beispielen zu begegnen. Mithilfe eines einjährigen Stipendiums der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit bereitet sie eine Publikation über ehemalige polnische Schtetl vor – mehrheitlich von Juden bewohnte Kleinstädte, aus denen während des Krieges mit einem Schlag ein großer Teil der Bevölkerung verschwand. Hinterher waren diese Kommunen verwaist, hatten ihre Identität verloren. Weintraub geht nun der Frage nach, was diese Kleinstädte tun, um ihre einstige Identität wiederzugewinnen. Warum bemühen sie sich darum, und wer steckt dahinter? Und wenn sie es nicht tun, warum nicht? Wie gehen sie damit um, dass die Geschichte der dortigen Juden ein unauflöslicher Teil der polnischen Geschichte ist? Und welche Rolle spielt dabei die katholische Kirche?
Während des Sozialismus waren solche Fragen tabu. Nach der Verwaltungsreform erlangten die Kommunen, die vorher im zentralisierten Polen nichts zu sagen hatten, ihre Subjektivität wieder, und nun wollen sie zeigen, dass es sie gibt. Das können sie nur tun, wenn sie sich auch an die Juden erinnern, die dort jahrhundertelang gelebt und die Städte ökonomisch und kulturell geprägt haben.
Die Aufarbeitung der polnisch-jüdischen Geschichte ist in vollem Gange. Jährlich erscheinen dazu Hunderte Publikationen. „Wesentlich ist, dass es keine Fragen geben darf, die ausgelassen werden“, betont Weintraub, „und mit unbequemen Fragen tun sich die Polen schwer. Es gibt hier einen tief verwurzelten Glauben an die nationale Unschuld.“ Bahnbrechend im Umgang mit unangenehmen Themen war die Debatte um die Kleinstadt Jedwabne im Nordosten Polens, wo am 10. Juli 1941 Juden in großer Zahl von ihren polnischen Nachbarn ermordet wurden. Solche Debatten seien Schritte in die richtige Richtung, und Weintraub ist optimistisch: „In den letzten Jahren kann man von einer regelrechten Beschleunigung sprechen.“
Aber es sind nicht nur die Polen, die sich schwertun mit den Juden. Auch die Juden tun sich umgekehrt schwer mit den Polen. Jene seien geübt darin, Antisemitismus zu erkennen und zu bekämpfen, es fiele ihnen aber ungleich schwerer, Freunde und Verbündete aufzuspüren, merkte auf einer Konferenz in Jerusalem der polnische Oberrabbiner Michael Schudrich an. „Und genau das sollte man in Bezug auf Polen tun“, bekräftigt Weintraub. „Erkennen und anerkennen, dass sich die Polen bemühen, ihre Geschichte zu bearbeiten und den Dialog zu suchen.“
Es gab zwar schon früher Bemühungen, sich an die Juden zu erinnern. Diese wurden jedoch von jüdischer Seite misstrauisch beäugt. Erst die schwierigen Debatten um die polnische Mitschuld am Beispiel von Jedwabne und Kielce bewirken, dass sich die jüdische Seite allmählich ernst genommen fühlt. „Die Polen sind sehr empfindlich“, sagt Weintraub. „Sie müssen lernen, zuzugeben, dass sie ganz normale Menschen sind. Wir machen Fehler wie alle anderen und können auch um Entschuldigung bitten. Erst eine solche Haltung ermöglicht Öffnung und freundschaftliche Beziehungen.“
Kasia Weintraub legt wenig Wert auf ihre jüdische Identität, befasst sich aber in letzter Zeit vorwiegend mit jüdischen Themen. Ein Widerspruch? Zufällig sei sie auf die Schtetl gestoßen, sagt sie, und seither habe sie dieses einstige enge Zusammenleben von jüdischen und katholischen Polen nicht mehr losgelassen. „Ich selbst habe damit nichts zu tun, aber ich habe viele Freunde und Bekannte, deren Familien aus solchen Orten stammen. Sie haben mir ihre Geschichten erzählt, und das hat mich gefesselt.“
„Irgendwann ist es Zeit, nach Hause zu gehen“, sagt Katarzyna Weintraub und meint damit ihre Rückkehr nach Warschau. Vielleicht ist aber auch ihre Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte so etwas wie eine Heimkehr. Wer weiß. |