Schlechte Erfahrungen mit Journalisten
Der Medienkonflikt um das Lager Trnopolje in Bosnien
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Das Lager Trnopolje in der bosnischen Krajina sei kein Gefangenen- und schon gar kein Konzentrationslager gewesen, sondern ein ganz gewöhnliches "Flüchtlingszentrum", in das die Menschen im Sommer 1992 freiwillig gekommen seien, "um Schutz zu suchen". Diesmal ist es der Frankfurter Journalist Thomas Deichman, der flächendeckend im deutschsprachigen Raum die Soldateska der bosnischen Karadzic-Serben als Opfer eines internationalen Medienkomplotts in Schutz nimmt.

Vor ihm sind vor drei Jahren Martin Lettmayer und Peter Brock in der Schweizer Weltwoche ins Feld gezogen. Brocks Artikel unter dem Titel "Bosnien: So logen Fernsehen und Presse uns an", in dem sowohl die Existenz von Todeslagern als auch die tausendfache Vergewaltigung muslimischer Frauen geleugnet wird, führte im Februar 1994 zu tagelangen Demonstrationen bosnischer Flüchtlinge vor dem Züricher Redaktionsgebäude der eigentlich für seriösen Journalismus bekannten liberalen Wochenzeitung.

Gemeinsam ist der journalistischen Leugner-Fraktion, daß sie genau jene Fehler begeht, die sie dem "Meutenjournalismus" (Konkret 3/94) vorwirft: Die Kollegen recherchieren schlampig, indem sie vor allem Personen interviewen, deren Interessenlage sie von vornherein als unglaubwürdig disqualifiziert. Welchen Aussagewert hat etwa ein Interview mit dem Verteidiger des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Dusko Tadic, das Deichmann jüngst in der Berliner Wochenzeitung Freitag veröffentlichte?

In seinem Standard-Artikel über das "Flüchtlingslager" Trnopolje stützt sich Deichmanns Hauptargumentationslinie auf die angebliche Fälschung eines Fotos aus britischem Filmmaterial, das durch seine Symbolwirkung die Welt wachrüttelte und zur Schließung mehrerer Todeslager führte. Auf den Aufnahmen vom 5. August 1992 sei ein Stacheldraht zu sehen, der in Wirklichkeit aber nicht das Lager selbst einfriedete, sondern bloß ein Grundstück, in dem es vor dem Krieg Agrargüter und Baugeräte zu kaufen gab.

Die mir vorliegenden Fotos zeigen Männer mit entblößtem Oberkörper an verschiedenen Zäunen, ein niedriger aus Maschendraht, der andere höher, aus Maschendraht mit einer Reihe Stacheldraht obenauf. Deichman befragt einen 17jährigen Serben, der "bis etwa April 1992" (das Lager wurde im Mai 1992 eingerichtet!) in Trnopolje zur Schule ging und angibt, es hätte nirgends einen Stacheldraht gegeben. Deichmanns weitere Gewährsmänner sind ein Lagerwärter und der Leiter des regionalen Roten Kreuzes, Pero Curguz.

Curguz organisierte nach Unterlagen der Historikerin Fadila Memisevic vom Zentrum zur Erfassung von Kriegsverbrechen im zentralbosnischen Zenica zusammen mit dem Lagerkommandanten Slobodan Kuruzovic am 21. August 1992 einen Konvoi von 3000 Bosniern über den Berg Vlasic ins bosnische Territorium. Etwa 250 ehemalige Gefangene der Lager Omarska, Keraterm und Trnopolje wurden aus dem Konvoi herausgeholt und mußten sich an einen 350 m tiefen Abgrund zur Exekution niederknien. Memisevic liegt die Liste von 151 Erschossenen vor. Curguz kann dazu nicht mehr befragt werden. Wie viele Mitarbeiter des bosnisch-serbichen Roten Kreuzes reich geworden durch von Muslimen erpreßtem Geld, wurde er laut Berichten aus Prijedor geflüchteter Bosnier vor zwei Jahren von einem seiner Tschetnik-Kumpanen ermordet.

Während Brock noch dreist behauptete, der ausgemergelte Mensch hinter dem Maschendrahtzaun sei ein 37jähriger Serbe namens Slobodan Konjevic, der wegen Plünderung festgenommen wurde und seit zehn Jahren tuberkulosekrank sei, kommt Deichmann nicht umhin, den Mann als den Moslem Fikret Alic zu identifizieren. Warum hat Deichmann weder diesen Alic, dessen Adresse unschwer herauszufinden ist, noch andere Überlebende von Trnopolje befragt?

Mich hat es ganze drei Anrufe gekostet, um in Berlin zwei Überlebende von Trnopolje ausfindig zu machen. Einer, der 39jährige Mittelschulingenieur aus Prijedor "Sudko", wie er mich gebeten hat, ihn zu nennen, steht auf dem Foto links hinter Alic. Er bestätigt den von Deichmann beschriebenen Standort von Journalisten und Lagerinsassen. Das Gelände mit dem Baumateriallager sei von einem etwa 1,5 m hohen Drahtzaun vom Rest des Lagers abgetrennt gewesen, wie es auch noch weitere Drahtzäune innerhalb des Lagers gegeben habe. Am 5. August, als die Journalisten "in Luxusautos" und von UNO-Jeeps begleitet zwischen 12 und 13 Uhr im Lager ankamen, war der als Kontingentflüchtling nach Berlin entkommene Sudko gerade aus dem Lager Keraterm gebracht worden. Mit Journalisten gesprochen hat er nicht. Sein Glück, denn die das taten seien später umgebracht worden.

Das britische Kameraauge, enthüllt Deichmann, habe nach ausgemergelten Gestalten gesucht und sei bei Fikret Alic fündig geworden. Das "falsche Bild" habe eine "Welle verschärfter Repression bis hin zur Androhung von Militärschlägen" gegen die bosnischen Serben bewirkt. Hat es denn noch andere ausgehungerte Menschen gegeben, frage ich Sudko und die heute 21jährige Edina N.* aus Prijedor. Nachdem Edina mit ihrer Familie in einem Wald versteckt am 20. Juli das Massaker von Rizvanovici überlebt hatte, wurde sie in einem Lkw nach Trnopolje gebracht. Als sie das Lager am 15. August verlassen konnte, wog die 17jährige 39 Kilo. Die Männer, die den Journalisten zum Zaun entgegeneilten, seien noch die kräftigeren gewesen, "die anderen hockten nur noch apathisch auf der Erde". Sie saßen "unter einem Baum im Schatten", liest sich das bei Deichmann. "Es war wie in Afrika", wiederholt Edina das in Bosnien oft gehörte Vorurteil, Verhungern sei das natürliche Schicksal afrikanischer Menschen.

Während Sudko in Keraterm alle 24 bis 36 Stunden eine Scheibe Brot und eine Kartoffelsuppe zu essen bekam, gab es in Trnopolje keinerlei Nahrungsausgabe. Wer D-Mark hatte, konnte sich von den Tschetniks was kaufen, ansonsten versuchten die Leute, wenn der Hunger nach fünf oder sechs Tagen unerträglich wurde, sich in der Nacht an Wachen und Stacheldraht vorbei ins Dorf durchzuschlagen, um nach Nahrung und Wasser zu suchen, ein lebensgefährliches Unterfangen. Wer erwischt wurde, bezahlte mit dem Leben.

"Als Therapie" hat Sudko schon zwei Bücher geschrieben und plant auch noch ein drittes. Sein Buch über Trnopolje ist voriges Jahr in einer Auflage von 2000 Stück im Eigenverlag erschienen, finanziert von seinen Freunden. Stacheldraht? Natürlich habe es den gegeben, rund ums Lager, zwischen zwei ein halb und drei Meter hoch sei er gewesen und so stark, daß man ihn nicht durchschneiden konnte. Außerhalb dieses Stacheldrahtes patrouillierten bewaffnete Wachen. An der Westseite des insgesamt etwa anderthalb oder zwei Quadratkilometer großen Geländes gab es Minen.

Im Buch ist eine Skizze: Der Stacheldraht, der das Lager von der Außenwelt trennte, ist natürlich nicht identisch mit dem Zaun auf dem berühmten Foto, was wohl auch niemand behauptet hat. Daß sich Journalisten nicht gerade die harmloseste Aufnahme aussuchen werden, um das Weltgewissen zu erreichen, liegt wohl auf der Hand.

Sudko hat keine Zeit, deutsch zu lernen. Er muß in einem fort schreiben. In Keraterm, wo er zwei Monate interniert war, wurde er Ohrenzeuge eines Massakers an bis zu 280 Männern. Die Gefangenen waren dort in vier Lagerhallen zusammengepfercht. Sudko hatte Glück, er wurde Halle 4 zugeteilt. Am 26. Juli mußten die Männer von Halle 3 zwecks "Entgiftung" der Räumlichkeiten ins Freie. Als sie wieder hineingetrieben wurden, stank es nach Nervengas. In Panik drängten alle nach draußen, wo die Tschetniks warteten, um sie abzuknallen. In Lkws wurden die Leichen weggebracht. Auf diese Weise entstand Platz für weitere Gefangene.

"In Zeiten des Krieges sind zivile Normen nicht mehr gültig", entschuldigt Deichmann "Übergriffe", dennoch sei das Leben in Trnopolje "relativ geordnet" abgelaufen. "Tieren ging es besser", entgegnet Edina, die im Krieg 38 Familienmitglieder verloren hat. Bis zum 5. August sei Trnopolje eindeutig ein "Vernichtungslager" gewesen, "wir waren Freiwild, jeder konnte jederzeit umgebracht werden". Sie und ihre Familie kampierten unter glühender Sonne im Freien neben der Schule. Zu Trinken gab es nur Regenwasser. Edina mußte mitansehen, wie ein 18jähriger Soldat seine ehemalige Schulkollegin vor deren Mutter und Großmutter vergewaltigte und anschließend mit dem Messer tötete.

Die Massengräber, in denen die Leichen geworfen wurden, etwa der Fischteich Sanicani, sind weiterhin ungeöffnet. Die "Serbische Republik" ist auch nach Dayton nicht kooperativ, wenn es um die Aufklärung von Verbrechen geht.

Sadko hat am 15. Jänner einen Termin beim Ausländeramt. An diesem Tag läuft seine "Duldung" als Kriegsflüchtling ab. Und dann? Er zuckt resigniert mit den Achseln. Weil er vielleicht zurück muß, wohin auch immer, hat er Angst, seinen richtigen Namen zu nennen: "Am Balkan kann man schnell sein Leben verlieren." Doch auch in Berlin ist er keineswegs sicher. Vor einigen Wochen wurde er am S-Bahnhof von zwei jungen Männern mit serbischem Akzent überfallen.

Die junge Edina N. möchte nie wieder zurück auf den Balkan. Ihre Therapie sind der Rückhalt in der Familie und ihre Arbeit in einem Berliner Sozialamt. Wenn sie erzählt, was sie hinter sich hat, erscheint sie seltsam gefühllos, so als spräche sie von einer anderen Person. Interviews gibt sie nur noch, wenn sie sich vorher genau erkundigt hat. Mit Journalisten hat sie schlechte Erfahrungen gemacht.

Ich kann es ihr nicht verübeln.

Erschienen in: "Der Standard", Wien, 17. Januar 1997

Schlechte Erfahrungen mit Journalisten © 1997 Erica Fischer